Hintergrundwissen "Moral"

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Einführung
"Moral" (lateinisch "moralis") (ebenso "Ethos", "Sitte") bezieht sich auf bestimmte Prinzipien, Handlungsmuster, Konventionen und Regeln, denen bestimmte Menschen, Gruppen oder Kulturen folgen. Moralvorstellungen teilen Menschen öffentlich (und innerlich übernommen) mit, welches Handeln in bestimmten Situationen erwartet bzw. für richtig gehalten wird.

 

Woher kommt Moral?

Moral entspringt unserer Erziehung und Sozialisation, wobei die Grundzüge der Moral bereits in den Genen liegen, denn wir kommen bereits - mehr oder weniger ausgeprägt - mit einem gewissen (und sogar mittels MRT nachgewiesenem) Moral-Instinkt zur Welt. Obwohl Moral unsere Vernunft beeinflusst, entspringt die Moral selbst weniger unserer Vernunft, als vielmehr unseren Gefühlen und Intuitionen. Erst nachträglich erhalten sie ihre Rechtfertigung von der Vernunft bzw. dem, was wir als Vernunft bezeichnen. Wie sich jedoch zeigt, sind Moralvorstellungen nicht immer "vernünftig".

 

Moral und Vernunft

Eine blutüberströmte Person - anstatt sie ins Krankenhaus zu bringen - am Straßenrand liegen zu lassen, halten die meisten Menschen für verwerflich, nicht aber den Kauf eines teuren Handys oder neuen Zweitwagens, während unser Nachbar vielleicht seine Miete nicht zahlen kann, wir ihm aber nicht helfen. Inzest oder Fotos von nackten Kindern finden die meisten Menschen ebenso abstoßend und verwerflich, nicht aber Videos von üblen Unfällen, bei denen sich Menschen übel verletzen. Derartige Videos, die man zu Haufe im Internet oder - als "Pannenshow" deklariert - im Fernsehen findet, werden sogar mit einem Schmunzeln (als regelrechter "Brüller") zum Lachen an Freunde und Bekannte geschickt. Wir finden es unmoralisch, dass manche Menschen eher gering bezahlt werden, weniger aber, dass Ärzte im Krankenhaus völlig überbelastet werden, teilweise so stark, dass sie sich kaum mehr in der Lage sehen, Ihrem hypokratischen Eid treu zu bleiben. 

 

Die Steuerhinterziehung eines Fussball-Managers empfinden viele als unmoralisch, weniger aber die des kleinen Angestellten. Einen Betrüger wollen wir - allein aus moralischen Aspekten heraus - zur Rechenschaft ziehen, weniger aber den mehrfach wegen Körperverletzung straffällig gewordenen ausländischen Jugendlichen oder den islamischen Familienvater, der seine Tochter einsperrt, schlägt und tötet, weil sie einen deutschen Freund hat uns sich seiner Meinung nach unsittlich verhält, insbesondere dann, wenn er sich auf Regeln in "seiner" Kultur oder seiner Religion beruft. Und wenn wir in den Medien hören und lesen, dass immer häufiger und brutaler Bedienstete des öffentlichen Personennahverkehrs beleidigt und angegriffen werden, hören viele ganz weg. Ebenso ärgern wir uns, wenn Zugführer streiken, nicht aber über streikende Metaller.

 

Obwohl hinter unseren moralischen Empfindungen zwar eine Art "Vernunft der Natur" steckt, ist diese aber ist nicht unbedingt unserer heutigen modernen Welt angepasst. Das bezieht sich auf unsere moralischen Vorstellungen von "Rache". Wie Züricher Forscher in einem Experiment zeigen konnten, befriedigt es Menschen zutiefst, Betrüger zur Rechenschaft zu ziehen: Bei Testpersonen, die unter Beobachtung im Kernspintomographen eine Vergeltungsaktion gegen einen Betrüger starten durften, wurden die Lustzentren des Gehirns so aktiv wie sonst nur beim Sex.

 

Vorstellungen, die in der Steinzeit geradezu dem Überleben dienten, um sich alleine oder mit der Sippe durchzusetzen, erscheinen in der heutigen modernen Zeit und angesichts entsprechender Rechtsstaatlichkeit eher unpassend.

 

Hinzu kommen aber auch viele neuzeitliche Moralvorstellungen, die teilweise sehr merkwürdig anmuten, zumindest dann, wenn man Sachverhalte sachlich prüft und einmal nüchtern nachmisst und vergleicht. Hinzu kommt, dass Moral unsere Wahrnehmung verzerrt und zu Beobachtungs-, Beurteilungs- und Wahrnehmungsfehlern führt, dadurch auch zu unlogischem Verhalten.

Wahrnehmungsfehler aufgrund bestimmter Moralvorstellungen

Bestimmte Moralvorstellungen beeinflussen unsere Wahrnehmung, unsere Beurteilung und unsere Entscheidungsfindung in erheblichem Maße. Dies beginnt bereits bei der Beobachtung: Finden wir bereits eine bestimmte Beobachtung als "unmoralisch" bzw. gegen unsere "Prinzipien" und geltende "Konventionen", schauen wir - allein aufgrund unseres Schamgefühls oder wegen der Furcht, selbst bei der Beobachtung beobachtet zu werden - nicht so genau hin oder sogar weg. Ebenso werten wir die Dinge um uns herum stets über unsere Moralvorstellungen. Hinzu kommt, dass wir uns oft nicht trauen, andere zu sanktionieren oder zumindest nicht zu protegieren, weil wir befürchten, nach der Moralvorstellung anderer selbst negativ beurteilt zu werden. Das tun wir selbst dann, wenn wir eigentlich nach geltendem Recht urteilen wollen: Unser Urteil wird verzerrt oder entfällt - und wir finden für unser eigentlich ungerechtes verhalten stets genügend Argumente, warum wir das tun oder aber aufgrund von Moralvorstellungen trotzdem richtig oder zumindest verständlich finden.

 

Empfinden wir es als unmoralisch, eine Person oder Personengruppe in irgendeiner Art und Weise zu bewerten bzw. zu beurteilen und über diese ggf. negative Beurteilungs-Option eventuell zu diskreditieren, ändern wir die Bewertung oder unterlassen die Beurteilung an sich. 

 

Um eine daraus resultierende kognitive Dissonanz zu vermeiden bzw. zu verarbeiten, richten wir stattdessen unsere Aufmerksamkeit nur noch auf die möglichen oder unterstellten positiven Aspekte, die wir so aufwerten, dass jegliche Relationen nicht mehr stimmen und die Beurteilung wie auch eine Entscheidung jeglicher sachlicher Grundlage und Logik entbehrt.

 

Das bezieht sich nicht nur auf den Prozess der Wahrnehmung an sich, sondern auch auf das daraus resultierende Verhalten. Wenn wir es z.B. als unmoralisch empfinden, ein negatives (ggf. sogar strafbares) Verhalten einer bestimmten Person anzusprechen oder gar zu sanktionieren, ändern wir die üblichen Raster für eine sachliche Beurteilung und ein z.B. sanktionierendes Verhalten, blenden wir einfach aus und vermeiden die sonst übliche Reaktion, insbesondere dann, wenn es sich bei der beobachteten Person oder Personengruppe um Stereotype handelt, die von unseren Moralvorstellungen direkt oder tendenziell protektioniert sind (z.B. Ausländer, Frauen, Behinderte, Kinder, alte Menschen etc.).

 

Dies führt dazu, dass bestimmte (z.B. negative) Verhaltenstendenzen (z.B. eine Straftat) eher toleriert werden. In einigen Fällen erfolgt eine regelrechte Wahrnehmungs-Umkehr, wobei sich die Beurteilung und Entscheidung sogar gegen die Opfer oder die Sicherheitsorgane wendet.

 

Selbst wenn eine durch unsere Moralvorstellungen geschützte Person oder Personengruppe unzählige Menschen ermordet, wird es aufgrund des besagten Wahrnehmungsfehlers viele Menschen geben, die z.B. als Zeuge keine oder keine eindeutige Aussage machen, die Tat herabspielen, Verständnis für den Täter bzw. die Tätergruppe zeigen (nicht oder weniger aber für die Tat an sich) oder sogar den oder die Täter schützen und sich sogar gegen die Opfer oder Sicherheitsorgane opponieren. Dies geschieht allein, weil der oder die Täter ggf. zu einem moralisch geschützten Personenkreis gehören z.B. aus einem bestimmten Kulturkreis stammen, Ausländer sind, behindert sind, unterdrückt sind, Kinder sind.

 

Das ist zugleich auch einer der vielen Gründe, warum auf Basis dieses Wissens bzw. dieser Erfahrung z.B. Kinder zum Stehlen geschickt werden. Ältere Menschen zählen heute übrigens nur noch sehr bedingt zu den moralisch protegierten Personengruppen, was darin liegt, dass sich die Moralvorstellungen aufgrund gesellschafts- und medienbedingter Prozesse - wie in anderen Fällen auch - ändern können. Moralvorstellungen unterliegen - ähnlich wie Trends - einer stetigen (nur langsameren) Veränderung, die mit vielen anderen Prozessen (z.B. Sozialisierungsprozess, Erziehung, Bildung etc.) in Verbindung steht.

 

Der Wahrnehmungsfehler aufgrund von Moralvorstellungen verzerrt nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Realität in erheblichem Maße. Dies kann sogar so weit gehen, dass ein bestimmter Straftäter bzw. bestimmte Personengruppen in gewisser Hinsicht direkt oder zumindest indirekt eine regelrechte "Narrenfreiheit" bekommen. Aber selbst dabei muss es nicht bleiben: Unter bestimmten Umständen führt die besagte "Narrenfreiheit" sogar dazu, dass eine aufgrund unserer Moral protegierte Person - anstelle einer Ächtung oder Bestrafung - sogar (allgemein oder speziell, direkt oder indirekt) gefördert wird. Bereits das Unterlassen einer negativen Beurteilung oder das Fehlen der überwiegend einstimmigen kollektiven Sicht kann dazu führen, dass z.B. negatives Verhalten dadurch indirekt gefördert wird. Dies alles nur, weil die Moral die Sachlage verzerrt und unsere sachliche Urteilsfähigkeit entscheidend beeinflusst.

 

Hinsichtlich der Vorstellungen und Ansichten in Bezug auf das, was als unmoralisch gilt, trifft der Effekt ebenso zu, nur umgekehrt: Hier werden bestimmte Personen und Personengruppen mit einem Stigma behaftet, welches sämtliche Beobachtungen, Wahrnehmungen, Beurteilungen und Entscheidungen ebenso trübt und stark beeinflusst.

 

Moralvorstellungen stehen in einem Zusammenhang mit stereotypen Menschenbild-Annahmen (z.B. Ausländer, Frauen, Behinderte, Kinder, alte Menschen etc.) und dem Fehler der sozialen Wahrnehmung. Konformitätsdruck und andere Effekte spielen hier ebenfalls eine Rolle. Beispiel Konformitätsdruck: Menschen sind in der Regel stets bestrebt, sich möglichst Gruppenkonform zu verhalten und den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen. Selbst dann, wenn diese Erwartungen nur vermutet bzw. unterstellt werden, sind Menschen bemüht, ihre Urteilsfindung möglichst konform zu den Urteilen anderer zu treffen und sich der Gruppe anzuschließen. Es besteht eine Angst, sich asozial zu verhalten und dadurch selbst ins Abseits zu geraten. Je weniger Menschen in einer Gruppe sind, desto höher die Hemmung, gegenteiliger Auffassung zu sein, desto geringer der individuelle Widerspruch, desto wahrscheinlicher die Urteilsfindung zu Gunsten der Mehrheit der Anwesenden. Daher gilt auch vor Gericht: Je mehr Richter bzw. Geschworene, desto wahrscheinlicher ist es, dass auch Minderheitenmeinungen vertreten werden. Ansonsten wird bei der Urteilsfindung bereits die Bewertungs-Skalierung zu Gunsten der Mehrheit bzw. der angenommenen bzw. unterstellten Mehrheit verschoben.

 

Zu beeinflussenden Moralvorstellungen, die sich teilweise in schriftlichen Normen (Gesetze) manifestieren zählen u.a. die sogenannte Frauenquote, bestimmte Religionszugehörigkeiten, das Schuldnerrecht und in gewisser Weise der Verbraucherschutz. Umgekehrt seien hier Menschen mit pädophilen Neigungen, Millionäre und - tendenziell zunehmend - Raucher erwähnt. Wie bereits erwähnt, ändern sich derartige Moralvorstellungen. Zudem sind Moralvorstellungen individuell sehr unterschiedlich. Das kann zu Täuschungen und dadurch zu Problemen führen.

 

Wenn wir z.B. einer Person oder einer Personengruppe (z.B. einem Staat) aufgrund unserer eigenen individuellen und/oder gesellschaftlichen Moralvorstellung viel Geld leihen, bedeutet das nicht, dass wir es bei erneuter Liquidität dann auch wirklich zurückerhalten, nur weil wir dem bzw. den anderen blindlings die gleiche Moral unterstellen (weil wir selbst so denken). Bereits ein neuer Partner oder - im Hinblick auf einen Staat - eine neue, anders denkende Regierung kann aufgrund anderer Moralvorstellungen oder einer Änderung der Moralvorstellungen bereits dazu führen, dass der besagte Schuldner sich anders verhält, als vorher versprochen. Insofern liegt das Problem darin, dass wir anderen Menschen oder Gruppen unsere eigene Moral zuschreiben bzw. unsere eigenen Moralvorstellungen und Werte automatisch in andere hineinprojizieren (siehe Projektionsfehler).

 

Der hier beschriebene Fehler steht in Verbindung mit weiteren Beobachtungs-, Beurteilungs- und Wahrnehmungsfehlern (z.B. Fehler aufgrund Konformitätsdruck) und verschiedenen Effekten. Einer von vielen Effekten ist der Bettler-Effekt:

Der Bettler-Effekt

Auch beim Bettler-Effekt wird unsere Wahrnehmung durch unsere Moral - verknüpft mit stereotypen Menschenbildannahmen - beeinflusst, ebenso unser Handeln. Das beginnt bereits damit, dass wir bestrebt sind, uns den Blicken und Ansprachen von "Bettlern" schamvoll zu entziehen oder aber alternativ unter Einfluss bestimmter Moralvorstellungen und unserer jeweiligen Stimmungslage - selbst dann, wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei dem besagten Bettler ggf. um einen "Gauner" bzw. "Betrüger" handeln könnte, einer entsprechende Spende geben, allein um unser Gewissen zu befriedigen und uns als Wohltäter zu fühlen. Allein das damit verbundene Gefühl der Überlegenheit kann - je nach Einstellung und Moral ein bestimmtes Handeln in die ein oder andere Richtung erzeugen.