Hintergrundwissen "Nähe-Fehler/Fehler der Nähe"
Mehrwert-Infos für Vielleser, Mehrwisser, Besserwisser
Der Nähe-Fehler ist ein Beobachtungsfehler und gleichzeitig ein Beurteilungsfehler und Erwartungsfehler. Alles, was uns nah ist oder zumindest nah erscheint, können wir uns leicht erklären. Was sich in unserer Nähe befindet, erscheint uns vertraut. Selbst wenn wir Menschen oder Dinge in unserer Nähe nicht wirklich kennen, erscheinen sie uns vertraut und erklärbar. Wir denken, dass wir sie besser kennen als entferntere Personen oder Dinge. Deshalb schauen wir bei allem, was uns nah ist, nicht mehr so genau hin. Unsere Beobachtung richtet sich mehr auf das, was wir noch nicht zu kennen glauben. Unser Forscher- und Entdecker-Instinkt, der eigentlich positiv gemeint ist, spielt uns dabei nicht selten einen gewaltigen Streich.
Während wir nach der Ferne streben und dort zugleich komplexe Zusammenhänge vermuten, vergessen wir Menschen und Dinge, die sich in unserer unmittelbaren Nähe befinden. Wir blenden sie einfach aus. Auch in Beziehungen und Ehen kommt dies nicht selten vor. Wir sind innerlich und/oder äußerlich so sehr mit fernen Zielen und entfernten Menschen, ggf. auch mit fremden Menschen beschäftigt, dass wir unser Beziehungsleben bzw. unsere Nächsten oft völlig vernachlässigen und oft gar nicht mitbekommen, wie es um unsere Nächsten steht, wie wenig wir überhaupt über diejenigen wissen, die uns vertraut oder gar am Vertrautesten erscheinen.
Selbst Sonne und Mond erscheinen uns - relativ betrachtet, insbesondere im Vergleich zu anderen Planeten - als vertraute Gefährten. Daher richten wir unsere astronomische Aufmerksamkeit mehr auf ferne Planeten, Asteroiden und ferne Galaxien, schließlich wollen Neues entdecken und erforschen. In Wahrheit ist selbst der nahe Mond kaum erkundet und die Sonne ein wesentlich wichtigerer und zugleich gefährlicherer Faktor als ferne Sonnensysteme. Weitaus gravierender noch ist die Tatsache, dass selbst unsere eigenen Meere zu einem Großteil nicht erforscht sind und ebenso unser eigenes Gehirn und das, was wir Seele nennen.
Wir beobachten Menschen und Dinge, die weiter entfernt sind, nicht nur anders als Menschen und Dinge in unserer Nähe – wir setzen auch andere Beurteilungsmaßstäbe an und stellen an andere
Erwartungen. Bei Fehlern oder Schwächen fremder Menschen lassen wir eher Milde walten als bei Menschen in unserem unmittelbaren Umfeld. Hier beurteilen wir zumeist wesentlich strenger. Zudem
stellen wir höhere Erwartungen.
Besonders deutlich wird dies z.B. hinsichtlich Erwartungen in Bezug auf Unterstützung und Hilfeleistung oder in Bezug auf erwartete Geschenke. Ein entfernter Verwandter darf uns vergessen und ein entfernter Bekannter seine Hilfe beim Umzug verweigern, nicht aber jemand, der uns besonders nah ist. Ihm nehmen wir solch ein Verhalten übel.
Umgekehrt steht es um das Vertrauen und die entsprechende Beobachtung und Aufmerksamkeit. Einem Menschen aus unserem Umfeld vertrauen wir mehr als anderen. Wir meinen unsere nächsten Mitmenschen gut zu kennen, ganz nach dem Motto „Ich kenne meine Pappenheimer“. Daher verhalten wir uns ihnen gegenüber unsensibler, risikofreudiger und streitlustiger. Zugleich erwarten wir unbewusst, dass Menschen aus unserem unmittelbaren Umfeld das „wegstecken“. Das führt oft dazu, dass wir manche Gefühle und manches Verhalten oft übersehen, während unsere Aufmerksamkeit auf andere Menschen gerichtet ist bzw. in die Ferne schweift. Bei Menschen und Dingen, die uns vertraut sind, schauen wir nicht (mehr) so genau hin und übersehen vieles, einfach nur deshalb, weil es in unserer Nähe ist, weniger interessant ist und auch harmloser erscheint.
In Krimis oder Psycho-Filmen wird der Fehler der Nähe gerne genutzt, um uns bewusst zu täuschen und unser Streben nach Erkennung und Überführung des Mörders bzw. Übeltäters ad absurdum zu führen: Während wir nämlich mit Hilfe unserer Intelligenz und Kreativität überall den Täter suchen, ist dieser ganz in der Nähe. Vielleicht ist er einer der Hauptakteure oder kommt direkt zu Beginn der Story bzw. des Films vor. Oft ist es der, der am harmlosesten wirkt oder jemand, der eine eher beiläufig erscheinende Nebenrolle in der Nähe der Hauptakteure bekleidet, woher dann auch der bekannte Spruch „Der Mörder ist immer der Gärtner“ herrührt. In einigen Psycho-Romanen bzw. Gruselstorys ist/sind es der/die sogar Hauptaktakteure selbst, die selbst gar nicht wissen, dass sie selbst z.B. längst tot sind.
Der Nähe-Fehler entspringt den Instinkten und Denkmustern unserer Vorfahren in der Steinzeit. Damals war es für das Überleben wichtiger, nach neuer Nahrung sowie nach neuen Orten und Lagerplätzen
Ausschau zu halten. Ebenso war es wichtig, Tiere und Feinde bereits in der Ferne zu erspähen, während die eigene Sippe und Familie Sicherheit bot und sich daheim um alles kümmerte. Dieses
Steinzeit-Denken ist auch heute noch tief in uns verankert. Das merkt man allein dadurch, dass einem – selbst beim Nachdenken – dieses Denken heute noch in unserer modernen Zivilisation völlig
logisch erscheint, obwohl es in Wirklichkeit nicht logisch ist. Diese Unlogik, die aber von Mutter Natur hingenommen wird, zeigt sich bereits in der Natur selbst: So ist ein Vogel den ganzen Tag
auf Nahrungssuche, um seine Jungen zu ernähren, setzt aber gerade dadurch seine Kinder hohen Gefahren aus.
Nicht zu verwechseln ist der Nähe-Fehler mit dem Gesetz der Nähe.
Dennoch besteht eine Verbindung.
Das Gesetz der Nähe
Das Gesetz der Nähe sagt aus, dass Elemente die einen geringen Abständen zueinander haben eher als zusammengehörig wahrgenommen werden als Objekte,
die weiter voneinander entfernt sind. Die Theorie wird u.a. bei der Gruppierung und Strukturierung von Daten verwendet.
Weitere Wahrnehmungs-Gesetze sind:
- Das Gesetz der Geschlossenheit
- Das Gesetz der Prägnanz
- Das Gesetz der Ähnlichkeit
- Gesetz des gemeinsamen Schicksals
- Gesetz der fortgesetzt durchgehenden Linie
- Gesetz der Gleichzeitigkeit
- Gesetz der Symmetrie
- Gesetz der Erfahrung