Hintergrundwissen "Perfektionismus"

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Perfektion und begriffliche Zusammenhänge
„Perfektion“ entstammt dem lateinischen „perfectio“ und steht für Vollkommenheit und Unfehlbarkeit. Vollkommenheit ist ein Zustand, der sich nicht noch weiter verbessern lässt. Vollkommenheit steht in Verbindung mit Makellosigkeit (lateinisch integritas, einem Zustand frei von Beschädigungen) und mit Vollendung (lateinisch perfectio, dem Endergebnis einer Serie von Verbesserungen).

 

Makellosigkeit und Vollendung sind nicht zu übertreffen. Sie stehen daher in Zusammenhang mit Unübertrefflichkeit. Ein makelloser bzw. vollendeter Zustand stellt ein Maximum des jeweils Erreichbaren dar. Einen derartigen Zustand bezeichnet man als ideal. Unfehlbarkeit bedeutet Irrtumslosigkeit, Fehlerlosigkeit, Perfektion im Handeln. 


Streben nach Perfektion
Das Streben nach Perfektion bezeichnet man sprachlich als Perfektionismus,
ebenso das übertriebene Streben nach Perfektion, das die Psychologie zu erklären versucht. Hier unterscheidet man zwischen dem Streben nach Vollkommenheit,
was sich auf hohe persönliche Standards sowie auf Gewissenhaftigkeit und gute Organisation bzw. Eigenorganisation bezieht – und übertriebener Fehlervermeidung als regelrechte Besorgnis (Angst). Übertriebene Fehlervermeidung  umfasst Leistungszweifel und Fehlersensibilität, aber auch Angst vor Bewertung durch andere.


Gesundes und ungesundes Perfektionsstreben
Ein Perfektionsstreben mit einer hohen Ausprägung des perfektionistischen Strebens und einer schwachen Ausprägung perfektionistischer Besorgnis wird allgemein als gesundes oder funktionales Perfektionsstreben gesehen. Eine hohe Ausprägung des perfektionistischen Strebens, gepaart mit einer hohen Ausprägung perfektionistischer Besorgnis wird als ungesundes (dysfunktionales) Perfektionsstreben bezeichnet und mit pathologischen Eigenschaften bzw. psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht. 

 

Erklärungsversuche

Das Zwei-Facetten-Modell von Don E. Hamachek (1978) differenziert zwischen dem normalen (funktionalen) und neurotischen (dysfunktionalen) Perfektionismus.  
Während normaler Perfektionismus nichts anderes als "Gewissenhaftigkeit" darstellt, wird nur die neurotische (dysfunktionale) Form als „Perfektionismus“ bezeichnet und erhält hier einen negative Bedeutung. 

 

Die Psychologen Paul L. Hewitt und Gordon L. Flett stellten 1991 ein Drei-Facetten-Modell vor, das zwischen drei Arten des Perfektionismus (selbstorientierter Perfektionismus, sozial vorgeschriebener Perfektionismus und fremdorientierter Perfektionismus) in zwei Stufen unterteilt, wobei sich die erste Stufe darauf bezieht, von welcher Quelle die hohen Ansprüche ausgehen und die zweite Stufe darauf, an welche Personen sich die Ansprüche richten.

 

Das Sechs-Facetten-Modell von Randy O. Frost und Kollegen (1990) unterscheidet sechs Facetten des Perfektionismus: Hohe persönliche Standards, Organisiertheit, Fehlersensibilität, leistungsbezogene Zweifel, Erwartung der Eltern und Kritik durch Eltern.

 

Ein weiteres Modell ist das Psychodynamische Modell nach der Theorie des Psychiaters und Neurowissenschaftlers Raphael M. Bonelli (2014).

Demnach ist Perfektionismus ein angstvolles Vermeidungsverhalten,

bei dem es zum Missverhältnis zwischen "Soll", "Ist" und "Muss" kommt.

"Soll" steht für das Ideal bzw. den idealen Sollwert, "Ist" steht für die persönliche Realität der Person. Während eine natürliche Spannung zwischen "Soll" und "Ist" für den psychisch gesunden Menschen leicht zu ertragen ist und ihn dazu motiviert, sich weiterzuentwickeln, kommt es bei Menschen mit einer perfektionistischen Störung dazu, dass eben diese Spannung persönlich nicht ertragen werden kann bzw. nicht erträglich scheint. Das „Soll“, dass nie vollständig realisierbar ist, führt zu einer permanenten Spannung und zu einem eigenen Vorwurf. Das "Soll" wird zu einem angstauslösenden "Muss". Dahinter steckt eine überzogene Angst vor Fehlern und der damit verbundenen Kritik, die man ängstlich-verkrampft zu vermeiden sucht. In so fern geht es dem Perfektionisten nicht um Perfektion an sich, sondern um die damit verbundene Unantastbarkeit". 

 

Perfektionismus und Persönlichkeit

Bonelli, Stumpf und Parker stellen einen hohen Zusammenhang zwischen Perfektionismus und den Big Five bzw. dem Fünf-Faktoren-Modell (FFM) heraus.

Nach diesem Modell lässt sich jeder Mensch in Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit einordnen.

 

Der Zusammenhang besteht darin, dass normale (funktionale) Perfektionismus-Facetten (z.B. hohe persönliche Standards und Organisiertheit) mit Gewissenhaftigkeit in Verbindung stehen, während dysfunktionale Facetten (z.B. leistungsbezogene Zweifel und Fehlersensibilität) mit Neurotizismus in Verbindung stehen.

 

Der Unterschied liegt darin, dass Gewissenhaftigkeit auf intrinsischer Motivation beruht, negativer Perfektionismus hingegen auf extrinsischer Motivation. Je höher die Angst, desto höher der Neurotizismus, desto extrinsischer die innere Motivation.

 

Was die Testung der Persönlichkeit anbetrifft, so können funktionale und dysfunktionale Facetten des Perfektionismus u.a. mit der mehrdimensionalen Perfektionismus-Skala von Frost u. a. (MPS-F) ermittelt werden.

 

Zusammenhang zwischen Perfektionismus und psychischen Störungen

Studien weisen bei Menschen mit erhöhten Perfektionismus-Werten einen Zusammenhang mit Stress, depressiven Symptomen, Ängstlichkeit und gestörtem Essverhalten nach. Patienten-Studien weisen zusätzlich einen Zusammenhang mit Störungsbildern wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Essstörungen, Alkoholismus, Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, sexuelle Funktionsstörungen und Selbstmordgedanken nach.

Der Hintergrund des Zusammenhangs zwischen Perfektionismus und psychischen Krankheiten ist nach Bonelli der erhöhte innere Distress (negativer Stress) bei Perfektionisten. Gewissenhafte Menschen begegnen Stress hingegen mit Strategien, die ihr Stresserleben reduzieren und/oder über positiven Stress (Eustress) positiv verstärken.

 

Therapie / Coaching
Sinnvolles Ziel ist somit die Umwandlung dysfunktionalen, neurotischen Perfektionsstrebens in funktionales, gesundes Perfektionsstreben bzw. in Gewissenhaftigkeit und Vortrefflichkeit. Gewissenhaftigkeit und Vortrefflichkeit sind stark motivierend; Streben nach Perfektion frustriert hingegen täglich. An Stelle des Strebens nach Perfektion, sollte folglich das Streben nach guter Qualität, das Streben nach optimaler Problemlösung, das Streben nach Attraktivität, das Streben nach einem glücklichem und erfüllten Leben stehen. Das Streben nach Exzellenz reicht vollkommen aus, schließlich ist Perfektion nicht möglich und damit selbst niemals vollkommen.

 

Hinweis
Auch wenn Perfektionismus durch die besagten Erklärungen eine negative Bedeutung hat, so ist Streben selbst nichts Verwerfliches. Die Frage ist nur, wonach man strebt und wie stark man sich selbst von diesem Streben und vor allem von anderen Menschen abhängig macht.

 

Viele Menschen streben nach Reichtum und nach Wichtigkeit der eigenen Person. Beides steht jedoch stets in einer Relation zu anderen Menschen und bildet eine regelrechte Abhängigkeit von anderen und von Vergleichen mit anderen. Oft liegt das daran, dass uns das nötige Selbstbewusstsein fehlt und unser Selbstwertgefühl eingeschränkt ist. Zumeist streben wir eben nicht nach unserem eigenen Glück, sondern nach dem, was andere (Menschen oder die Gesellschaft an sich) nach unserer eigenen Einschätzung für Glück erachten.

 

Wer also ständig nach Perfektion strebt, der sollte wissen: Perfektion ist nicht zu schaffen. Immer wird etwas fehlen. Stets kann man irgendetwas immer noch weiter verbessern. Diese Tatsache führt ganz unweigerlich zu Frust und zu immer größerem Frust. Perfekte Menschen gibt es nicht – und wenn es sie gäbe, wären sie sicher nicht für andere Menschen attraktiv, denn gerade die Unvollkommenheit ist es, die interessant macht und Neugierde weckt: Neugierde auf das, was noch so alles kommen mag. Genau das fehlt bei der Perfektion.