Hintergrundwissen "Selektive Schockrisiko-Wahrnehmung"
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Selektive
Schockrisiko-Wahrnehmung zählt zum Phänomen der selektiven Wahrnehmung (selektive Aufmerksamkeit) und basiert auf selektiv wahrgenommenen
Ängsten. Beim Fehler der
selektiven Schockrisiko-Wahrnehmung geht es um die fehlerhafte Wahrnehmung eines Ereignisses mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, die deshalb als besonders riskant empfunden wird, weil sie
eine besonders schockierende Wirkung hat.
Menschen haben vor vielen unterschiedlichen Dingen Angst. Die einen fürchten sich vor Spinnen, Haien oder sogar vor Tauben,
andere haben Angst vor Höhen, vor engen Räumen oder sogar vor Schmutz oder Staub. Ängste sollen uns vor Gefahren schützen, geraten aber manchmal völlig "aus dem Ruder". Dann haben wir vor
Dingen Angst, vor denen uns eigentlich keine Gefahr droht. Psychische Störungen sollen hier
aber nicht thematisiert werden, schließlich geht es hier um einen ganz alltäglichen Wahrnehmungsfehler, der jeden betrifft.
Ob es sich nun lediglich um eine vermeindliche oder eine reale Gefahr handelt: Manchmal konzentriert sich unsere Angst selektiv auf ganz spezielle "Gefahren", während wir andere völlig übersehen. Das, was uns Angst macht, ist nicht unbedingt das, was am gefährlichsten ist. Nicht selten beinhalten Gefahren, die wir übersehen, sogar ein viel höheres Gefahren-Risiko. Das führt dazu, dass wir bemüht sind, Gefahren, die eigentlich einen relativ geringen Risiko-Faktor haben, tunlichst zu umgehen, während wir echte Risiken blindlings übersehen und sogar locker in Kauf nehmen.
So haben wir z.B. Angst vor Seuchen wie Rinderwahn und Schweinegrippe.
Vor einer gewöhnlichen Grippe fürchten wir uns jedoch weniger. Man kennt das bereits und weiß, um was es sich handelt, zumindest denkt man das, weil man es als normal wahrnimmt. In Wahrheit
sterben an einer gewöhnlichen Grippe in Deutschland jedes Jahr ca. 10000 Menschen, während an den Folgen des Rinderwahns und der Schweinegrippe zusammen nur ca. 150 Personen in ganz Europa
erkrankt sind und in Deutschland lediglich 20 Todesfälle diesen Seuchen zugeordnet werden können.
Die Seuchen, vor denen wir uns aber fürchten, klingen ganz anders in unseren Ohren und wirken viel schlimmer. Sie werden auch viel spektakulärer dargestellt.
Wir nehmen sie allein schon deshalb viel mehr wahr, weil die Medien davon berichten. Dabei vergessen wir aber, dass die Medien nur von Ereignissen berichten, die uns verstärkt interessieren, uns
neugierig machen und unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Tod des Nachbarn wird nicht erwähnt, lediglich der Tod des namhaften Prominenten, der uns im übrigen dann zumeist viel mehr bewegt.
Wir haben Angst vor ganz bestimmten Krankheiten wie z. B. Krebs. Die drei häufigsten weltweiten Todesursachen sind jedoch Herz-Kreislauf-Erkrankungen (7,3 Millionen Opfer), Infektionen der Atemwege und Lungenentzündung (über 6,7 Millionen Opfer) und Zerebrovaskuläre Erkrankungen (6,15 Millionen Opfer).
Obwohl man weiß, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Position 1) durch Stress und insbesondere durch das Rauchen (Todesrisiko 1:260) ausgelöst werden, verhalten sich Menschen irrational und haben mehr Angst vor anderen Dingen, die mit wesentlich geringerer Wahrscheinlichkeit, sogar einer Wahrscheinlichkeit gen 0 eintreten. Dass statistisch betrachtet, jede Zigarette das Leben um etwa acht Minuten verkürzt, wird verdrängt. Menschen ignorieren solche Zahlen und gehen davon aus, dass eine solche Statistik sie selbst nicht betrifft.
Wenn aber eine schockierende Nachricht in den Medien kommt, wir entsprechende Bilder sehen, die uns schockieren oder uns etwas ganz besonders ärgert, was in unserer unmittelbaren Nähe ist, sieht es anders aus. Dann ändert sich unsere Wahrnehmung abrupt: Obgleich weltweit jährlich mehr als 9,5 Millionen Hektar Wald weltweit abgeholzt wird, was in etwa 18 Fußballfeldern pro Minute entspricht, prozessieren wir gegen den Nachbarn, der ein Bäumchen zu viel oder zu nah gepflanzt - oder ohne Genehmigung gefällt hat, weil es uns besonders ärgert, dass es in unserem unmittelbaren Umfeld geschieht.
Das beschriebene Phänomen kennen wir bereits als Selektive Wahrnehmung und auch in etwa vom sogenannten Aufmerksamkeitsfehler her. Im konkreten Fall geht es aber zugleich um Ängste bzw. die Folgen eines Schocks durch Wahrnehmung eines vermeindlichen Risikos.
Unter einem Schock versteht man das Erleben einer plötzlichen (echten oder vermeindlichen) Bedrohung, welche die körperliche oder/und seelische Verfassung erschüttert. Unter einem Risiko versteht man die Beschreibung eines Ereignisses mit der Möglichkeit negativer Auswirkungen. Es ist das Produkt aus der Eintrittswahrscheinlichkeit des Ereignisses und der Schwere des Schadens als Konsequenz des Ereignisses. Bei der selektiven Schockrisikowahrnehmung handelt es sich um die Wahrnehmung eines Ereignisses mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, die deshalb alsbesonders riskant empfunden wird, weil sie eine besonders schockierende Wirkung hat.
Diese Schock-Wirkung kann darauf basieren, dass bei dem entsprechenden Ereignis z.B. "besonders viele" Menschen auf einen Schlag getötet werden (Beispiel: Terroranschläge in den USA am
11.September 2001) oder alternativ auf der entsprechenden Medienpräsenz und Medienberichterstattung, wenn z.B. ein durchaus alltägliches Ereignis wie z.B. der Tod eines Menschen oder einer Gruppe
von Menschen als Besonders (viel, schlimm, herausragend etc.) dargestellt und vom Beobachter bzw. den Wahrnehmenden so empfunden wird.
Bilder aus bestimmten Fernsehübertragungen z.B. Bilder von - in die Zwillingstürme des World Trade Centers - einschlagenden Flugzeugen, von vielen herunterspringenden Menschen und einstürzenden Türme bzw. Gebäudekomplexen haben eine enorme Schock-Wirkung und lösen eine Art Trauma in unserem Kopf aus. Diese traumatische Erinnerung führt dann zur erhöhten Aufmerksamkeit und zur selektiven Wahrnehmung und dadurch zu einem bestimmten Verhalten (z.B. Vermeidungsverhalten, Ausweichverhalten).
Menschen reagieren auf ihre Ängste sowohl bewusst, als auch unbewusst mit Vermeidungs- und Ausweichverhalten. Dieses Verhalten kann weitaus schlimmere Schäden mit sich ziehen und sogar mit einem noch viel größerem Risiko verbunden sein, als bei Nichtänderung des Verhaltens.
Derartige Bilder wie die vom 11. September wirken so enorm, dass kurz danach das Fliegen an sich als enormes Risiko wahrgenommen wurde, wobei derartige Wahrnehmungen später wieder nachlassen. Trotzdem führte dies nachfolgend dazu, dass im Laufe eines Jahres nach dem Anschlag des 11. September die Zahl der Autounfälle in den USA enorm angestiegen ist, weil die Menschen aufgrund der starken Angst, sich in ein Flugzeug zu setzen, lieber mit dem Auto fuhren.
So sind allein 1600 Amerikaner, folglich mehr als die Hälfte der Menschen, die am 11. September starben, zusätzlich auf der Straße gestorben, nur weil sie das verstärkt wahrgenommene Risiko des Fliegens umgehen wollten.
Es ist nicht der Verlust vieler Leben der uns schockiert. Schätzungsweise 29000 Kinder sterben täglich auf unserem Planeten. Das Ertrinken eines einzelnen Kindes im Badesee nehmen wir aber viel stärker und als viel schlimmer wahr. Ebenso ist dies beim Tod einer Gruppe: Der Tod einer Gruppe von Menschen schockiert uns mehr als der Tod einzelner Personen. Jährlich sterben 56,26 Millionen Menschen. Das entspricht zwei Todesfällen pro Sekunde. Dennoch nehmen wir den Tod einer 3-5-köpfigen Bergsteigergruppe, die sich selbst überschätzt hat und eigentlich bewusst ein zu hohes Risiko eingegangen ist, viel stärker wahr. Wir denken darüber nach, reden darüber, schreiben Bücher darüber, produzieren Filme darüber. Ebenso ist dies bei Expeditionen.
Je spektakulärer ein Ereignis ist bzw. von den Medien dargestellt wird, desto verzerrter bzw. höher nehmen wir das Risiko wahr. Es gibt sogar Risiken, die extrem gering bis fast nicht vorhanden sind, Menschen dennoch enorm beschäftigen, weil sie in den Medien ständig angesprochen und diskutiert werden.
Obwohl die Chance, an Bord eines großen Verkehrsflugzeuges zu sterben laut Statistik von 2013 bei weniger als einem Hunderttausendstel Prozent liegt, führt dies u.a. dazu, dass rund ein Fünftel
der Deutschen Angst vorm Fliegen hat. Die Medien berichten von einem Flugzeugabsturz oder einer Massenkarambolage auf der Autobahn, nicht aber von den vielen Einzelopfern, die der
Straßenverkehr fordert. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weltweit jährlich rund 1,24 Millionen Menschen im Straßenverkehr.
Nach einem Flugzeugabsturz kursieren tagelang Bilder in den Medien und schüren unsere Ängste. Dass allein in Deutschland täglich 9 Menschen im Straßenverkehr sterben, wird hingegen verdrängt und schnell vergessen, es sei denn, es handelt sich um eine Gruppe. Die Nachricht über eine Gruppe verunglückter Kinder wirkt dabei stärker als die Nachricht über eine gemischte bzw. nicht spezifisch genannte Gruppe von Menschen.
Wie auch immer: Die Selektive Schockrisiko-Wahrnehmung hat eine enorme Wirkung und führt - wie bei anderen Wahrnehmungsfehlern auch - dazu, dass wir Sachverhalte falsch beurteilen, die Lage (hier: Mögliche Risiken und den Ernst der Lage) falsch einschätzen und stattdessen einer ganz anderen Überzeugung sind. Wie bei anderen Wahrnehmungsfehlern auch führen die entstehenden Denkprozesse zu einem bestimmten irrationalen Verhalten.