Hintergrundwissen "Pluralistische Ignoranz" + "Zuschauer-Effekt"
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Pluralistische Ignoranz
Zuordnung
Die Untersuchung der pluralistischen Ignoranz erfolgt in der Sozialpsychologie. Der Effekt basiert auf Sozialem Einfluss und dem Effekt der Sozialen Wahrnehmung.
Wann tritt Pluralistische Ignoranz auf und was passiert?
Pluralistische Ignoranz tritt auf, wenn sich ein Mensch sich in einer mehrdeutigen, schwer einschätzbaren Situation befindet und nicht weiß, was zu tun ist. Man schaut sich dann um und
beobachtet, was die anderen tun. Dabei üben die beobachteten Personen – ohne, dass diese zwingend aktiv etwas tun müssen - durch ihre reine Anwesenheit informativen sozialen Einfluss auf den
Beobachter aus.
Der Effekt tritt z.B. in Notsituationen auf, in denen es eigentlich darum geht, eine Situation richtig einzuschätzen und zu handeln (helfen, fliehen, sich wehren etc.). Aufgrund des Effektes
nimmt jeder einzelne Beobachter dann an, es bestünde kein Problem, da augenscheinlich kein anderer Beobachter betroffen wirkt oder sich irgendein ernstzunehmendes Anzeichen von Angst oder Panik
oder von Kritik oder Widerstand zeigt.
Die Basis des Effektes
Pluralistische Ignoranz basiert auf dem Effekt des sozialen Einflusses (Social Cognition Effekt). Er beschreibt keinen Wahrnehmungsfehler an sich, sondern eine Situation, in der ein bestimmter
Wahrnehmungsfehler (hier: Der Effekt des sozialen Einflusses) erfolgt.
Geprägt wurde der Begriff von Daniel Katz und Floyd H. Allport 1931. Verwendet wurde der Begriff der Pluralistischen Ignoranz u.a. im sogenannten „Decision model of bystander intervention“ von Latané & Darley. Anhand dieses Modells wird die Hilfeleistung bzw. das Unterlassen der Hilfeleistung in Notsituationen (durch die Menge der Zeugen) erklärt (Bystander-Effekt).
Was passiert in den Köpfen der Menschen?
Bei diesem Effekt gehen Menschen fälschlicherweise davon aus, dass die Mehrheit der anderen Menschen eine Situation (z.B. Norm, einen Umstand, ein Verhalten, ein Gesetz etc.) akzeptiert. Einfach
ausgedrückt, könnte man den Effekt wir folgt zusammenfassen: „Jeder glaubt, dass alle anderen daran glauben, während in Wirklichkeit keiner daran glaubt" Fakt ist: Bei einer größeren Zahl von
Umstehenden wird die Bereitschaft größer, eine gefährliche Situation eben nicht als Notfall einzuschätzen bzw. eine entsprechende Handlungsnotwendigkeit zu erkennen.
Was steckt dahinter? Wie lässt sich der Effekt erklären?
Notsituationen sind oft sehr uneindeutig bzw. schwer zu deuten.
Soll man nun fliehen? Soll man kämpfen? Oder bildet man sich ein Problem bzw. eine Notsituation nur ein? Die Angst (bzw. das Schamgefühl), überzureagieren und sich ggf. vor anderen „lächerlich“
zu machen (z.B. indem man zu viel Angst zeigt), spielt hier eine wichtige Rolle.
Niemand möchte der erste sein, der sich dem Risiko aussetzt, sich vor den anderen schwach zu zeigen oder sich gar lächerlich zu machen. Daher warten Menschen manchmal bis auf die letzte Sekunde,
zu fliehen, zu helfen oder sich zu wehren. Andere ergeben sich - allein durch ihr Unterlassen - dem Schicksal (ausbleibende Rettung, Tod, Etablieren totalitaristischer Gesetze, Etablieren
totalitärer Systeme etc.)
Wie funktioniert der Mensch in uneindeutigen Situationen?
Bevor man selbst vor den Augen der anderen ein vermeintlich falsches Verhalten zeigt, sammelt der Mensch in uneindeutigen Situationen zuerst einmal Indizien in Form sogenannter Hinweisreize, um
eine Situation für sich richtig einzuordnen. Dabei versucht der Einzelne, Informationen über seine Umwelt zu gewinnen. Das Verhalten bzw. die Reaktionen seiner Mitmenschen nutzt der Einzelne
dabei als Deutungshilfe. Wenn sich eine Gruppe von Menschen in einer mehrdeutigen, schwer einschätzbaren Situation befindet und keiner weiß, was zu tun ist, versuchen die Anwesenden aus der
Beobachtung der jeweils anderen Personen irgendwie Hinweise auf mögliches sinnvolles Verhalten zu bekommen. Der Versuch, Hinweise von anderen Menschen zu bekommen, erfolgt auch ohne aktive
Kommunikation. Menschen beobachten andere Menschen, um von ihnen Rückschlüsse auf eine Lage zu bekommen, insbesondere dann, wenn man selbst die Lage nicht richtig einzuschätzen weiß.
Ursprung dieses Denkens
Dieser "Instinkt" stammt noch aus dem kollektivistischen Sippendenken der Steinzeit in Bezug auf Angst und Fluchtverhalten. Wenn Sippenmitglieder beunruhigt wirkten (z.B. weil jemand aus der
Gruppe ein Knacken hinter den Büschen hörte) und dies Rückschlüsse auf einen möglichen Angriff eines Raubtiers (z.B. eines Säbelzahntigers) zuließ, mussten auch die anderen der Gruppe adäquat
reagieren (z.B. mit Angriff- oder Fluchtverhalten), um sich selbst zu schützen und auch, um in der Gruppe gemeinschaftlich zu funktionieren. Folglich ist der Effekt eigentlich positiv gemeint.
Leider kann er, insbesondere in der heutigen Zeit, die viel vielschichtiger ist, zu Fehlreaktionen (z.B. Unterlassen) führen (z.B. weil sich Menschen immer sicherer fühlen und quasi abgestumpft
sind und die Wahrnehmung von Gefahren quasi über den Lern- und Sozialisationsprozess verlernt haben oder weil sie im gesellschaftlichen Image-Kontext eher cool und gelassen wahrgenommen werden
wollen).
Niemand tut etwas
Gruppen üben auf ihre Mitglieder informativen sozialen Einfluss aus. Wenn die anderen aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht reagieren oder sie ebenfalls ratlos sind, reagiert keiner
(z.B. auf eine Gefahr). Zusammen mit der Verantwortungsdiffusion führt dies in besonderen Situationen (z.B. Notfallsituation) dazu, dass niemand etwas unternimmt, niemand einschreitet und niemand
hilft - allein dadurch, dass sich der Einzelne dem passiven Verhalten der Menge anpasst. Dies kann fatale Folgen haben.
Zivilcourage
Nur wenn sich jemand traut, sich eigensinnig von der Gruppe zu lösen oder diese aktiv zur Reaktion zu bewegen, kann Hilfe erfolgen. Die Chancen, dass sich einzelne Personen aus dem System der
pluralistischen Ignoranz herauslösen, sind jedoch sehr gering, allein dadurch, weil der Social Cognition Effect so stark wirkt. Um in einer Notfallsituation zu überleben, muss es in Gruppen bzw.
Gesellschaften daher Menschen geben, die sich aus der Gruppe herauslösen (z.B. als erste handeln) oder in der Gruppe generell zum Modell werden. Sofern sich derartige Persönlichkeiten wirklich
finden, können allmählich auch die anderen reagieren und als "Bystander" folgen. Sofern aber niemand sich als erster regt, kann großes Unheil über eine Gruppe kommen, allein deshalb, weil niemand
etwas gegen das Unheil unternimmt, davor flieht oder dagegen ankämpft.
Zuschauer Effekt / Bystander-effect
non-helping-bystander effect / Genovese Syndrom
Was beschreibt der Effekt?
Der "Zuschauer Effekt" bzw. "bystander effect", der auch als "non-helping-bystander effect" oder "Genovese-Syndrom" bezeichnet wird, beschreibt das Phänomen, dass einzelne Augenzeugen eines Unfalls oder eines kriminellen Übergriffes insbesondere dann mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit eingreifen bzw. Hilfe leisten, wenn weitere Zuschauer (engl. bystander „Dabeistehende“) anwesend sind.
Wie erklärt sich der Effekt?
Der Effekt liegt im archaischen Sippendenken des Menschen als soziales Wesen begründet. Der Einzelne überträgt die Verantwortung an das Kollektiv. Niemand möchte den ersten Schritt tun. Der Einzelne möchte sich nicht blamieren bzw. sich vor den anderen lächerlich machen. Alternativ ist der Einzelne auch zu bequem, den ersten Schritt zu tun oder er traut sich von seinem Kompetenz-Empfinden nicht zu, zu handeln.
Die individuellen Gründe liegen in der individuellen Persönlichkeit. Der Effekt selbst wirkt aber unabhängig (!) davon. Er basiert auf dem Effekt des sozialen Einflusses. Dieser Effekt führt dazu, dass das eigenständige Denken und Handeln ausgeblendet wird und sich dem tatsächlichen oder nur vorstellten Denken und Verhalten der Gruppe unterstellt.
Woher stammt der Begriff "Genovese-Syndrom"?
Der Begriff „Genovese-Syndrom“ basiert auf dem Namen von Kitty Genovese, einer US-Amerikanerin aus New York City, die 1964 auf dem Weg zu ihrem Wohnhaus einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Der
Anschlag auf Kitty Genovese zog sich über etwa eine halbe Stunde hin und geschah an verschiedenen Orten.
Mindestens 38 Personen aus der Nachbarschaft beobachteten den Überfall, ohne dass der jungen Frau irgendjemand zu Hilfe kam. Wer meint, so etwas sei ein Einzelfall, der täuscht sich. O.g. Effekte
belegen, dass es sich vorab sogar um eine Regel handelt. Diese Tatsache wird lediglich selten bemerkt oder von Menschen aufgrund des sogenannten "gesunden Menschenverstandes" nicht für möglich
gehalten. Hinzu kommt die darauf basierende Ausblendung derartiger Wahrnehmungs-Reize durch den Effekt der Selektiven Wahrnehmung. Wer ein derartiges Handeln nicht für möglich hält, der nimmt es
auch nicht oder nur wenig bzw. selten wahr. Folglich führt dies in der individuellen Wahrnehmung zu der Annahme von Seltenheit bzw. von Ausnahmeerscheinungen. Das Phänomen wurde mittlerweile
abereingehend untersucht, ebenso der grundlegende Effekt des Sozialen
Einflusses.
Der Mord an Kitty Genovese veranlasste die Psychologen John M. Darley von der New York University und Bibb Latané von der Columbia University das Nichteingreifen der Zeugen wissenschaftlich zu
untersuchen. Als Hauptursachen des Verhaltens identifizierten die Forscher die Aufteilung der Verantwortung sowie Pluralistische Ignoranz. Die Forschungsarbeiten von Darley und Latané motivierten
zu vielen weiteren sozialpsychologischen Studien über prosoziales Verhalten. Forschungen, welche die Ursachen für das Phänomen der unterlassenen Hilfeleistung untersuchen, betonen die starke
Bedeutung von Gruppenprozessen und Gruppendynamik.
Unterschiedliche Theorien zur Ursache
Theorie 1:
Die Notwendigkeit oder Dringlichkeit einer Hilfeleistung kann von den Umstehenden nicht eindeutig eingeschätzt werden. Die Personen unterlassen Hilfeleistung, weil sie befürchten, dass sie sich
blamieren, wenn sie in einer Situation eingreifen, die für die betroffene(n) Person(en) nicht bedrohlich ist.
Theorie 2:
Bei einer größeren Zahl von Umstehenden wird die Bereitschaft größer, die Situation nicht als Notfall einzuschätzen (pluralistische Ignoranz). Die anderen Umstehenden sehen offenbar auch keinen
Notfall, denn niemand sonst hat bisher eingegriffen.
Theorie 3:
Bei einer größeren Zahl von Umstehenden kommt es zu einer Verantwortungsdiffusion: Verantwortungsteilung auf die Zahl der Zuschauer bezogen mit gleichzeitiger Abnahme der Eigenverantwortung. Es
wird darauf gewartet, dass eine andere Person eingreift bzw. den ersten Schritt einer Intervention wagt.
Theorie 4:
Nach der Reaktanz-Theorie fühlt sich eine um Hilfe gebetene Person von dieser Bitte in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeengt. Als Gegenreaktion wird sie dazu tendieren, Hilfe zu verweigern.